Die Mannheimer Mär vom wachsenden Radverkehr
Ein Bericht und eine Grafik im „Mannheimer Morgen“ (20.05.23) vermittelt den Eindruck, in Mannheim hätte die Zahl der Fahrradfahrten in den letzten Jahren enorm zugenommen. Den dort abgebildeten Daten zufolge müssten sich die an den automatischen Zählstellen gemessenen Radfahrten zwischen 2017 und 2022 von 3,3 Mio. auf 6,6 Mio. verdoppelt haben! Kann das sein?
Klare Antwort: Nein, das ist ein absoluter Fake (der auch durch die im Zeitungsartikel angedeuteten Zweifel an der Aussagekraft der Daten nicht behoben wird). Wie konnte das geschehen? In der MMGrafik wurden die für einige Zählstellen abgerufenen Jahresdaten blindlings zu einer Zeitreihe zusammengefügt – obwohl die Zählergebnisse der jeweiligen Jahre auf ganz unterschiedlichen und nicht vergleichbaren
Messverfahren beruhen. Beispielsweise gab es in den Jahren 2017 und 2018 einige Zählstellen noch gar nicht, aber sie wurden trotzdem in die Grafik aufgenommen! Daher spiegelt die Zeitreihe nicht die Zahl der Radfahrten, sondern schlicht das Ergebnis der über die Jahre wachsenden Zahl an Zählstellen wider. D.h. 2017 und 2018 wurde durch viele Null-Werte ein in der Summe niedriges Ausgangsniveau erzeugt, weshalb die nachfolgenden Jahreszahlen logischerweise weit höher liegen. Hinzu kommt, dass auch die Zahlen für 2022 zum Teil durch ein statistisches Artefakt nach oben gezogen wurden (monatelange Baustellen-Umleitung über eine zuvor weniger frequentierte Zählstelle).
Nun ist zu hoffen, dass sich die falschen Zahlen nicht in die Köpfe von Politik und Verwaltung eingraben. Die dringlichen Rufe nach Verbesserungen im Radverkehr würden dann noch weniger gehört. Diese Gefahr ist real, denn schließlich wurden schon im MM-Artikel die schlechten Noten im ADFC-Klimatest durch den Hinweis auf vermeintlich steigende Radverkehrszahlen zur Debatte gestellt.
Nachfolgend wird aufgezeigt, dass die Zählstellendaten und die Ergebnisse von ADFC-Klimatest keinen
Widerspruch, sondern eher einen Zusammenhang aufweisen: Denn insgesamt betrachtet gibt es keine wirklich messbaren Fortschritte im Mannheimer Radverkehr. Es zeigt sich, wenn überhaupt, allenfalls ein schwacher Anstieg der Frequenzen an wenigen Zählstellen, der jedoch den Mangel an tauglichen Radwegen nicht verdecken kann. Aus diesem Grund wird, wie andere Daten belegen, in Mannheim das Fahrrad immer noch weit seltener genutzt als in vergleichbaren Städten.
Keine valide Verbesserung im Mannheimer Radverkehr
Die Frequenzdaten der automatischen Zählstellen lassen offen, ob sich die Zahl der Radfahrenden in Mannheim in den letzten Jahren überhaupt verändert hat. Zum einen deshalb, weil die Zählstellen nur Frequenzen an ausgewählten Punkten bzw. an einigen Brücken erfassen und zum anderen keinerlei Information über Veränderungen in der Verkehrsmittelwahl bzw. über den Modal Split enthalten (siehe hierzu auch „Erläuterungen zu den Daten“).
Eine das gesamte Stadtgebiet umfassende valide Daten- bzw. Zeitreihe ließe sich mit den Zählstellendaten ohnehin nicht generieren, weil 3 der 8 Counter an den Brückenköpfen erst Ende 2018 eingerichtet wurden und die bestehenden Counter wegen Defekten zeitweise ausgefallen sind. Je nachdem welche Brückenpassagen und Referenzzeiträume man aufgrund der Einschränkungen auswählt, schwanken die Ergebnisse:
- Eine Zeitreihe die erst nach 2018 beginnt macht keinen Sinn, weil Covid-19 und der Lockdown jeglichen Vergleich unmöglich machen.
- Fokussiert man daher auf einen Querschnittsvergleich zwischen 2018 und 2022, dann liegen kompatible Ganzjahresergebnisse ausschließlich für die 3 Neckarbrücken vor. Demnach hätte der Radverkehr an diesen 3 Brücken um insgesamt 8% zugenommen (Schaubild 1).
- Möchte man in die Berechnung alle 5 Brücken über Neckar und Rhein einbeziehen, dann gelingt dies nur mit jährlichen Quartalsdaten zwischen April bis Ende September. Im Jahr 2022 wurden hier 2,898 Mio. Radfahrten registriert, was fast exakt der Zahl im Jahr 2018 entspricht.
D.h. die Zahl der Radfahrten hat sich seitdem um 0,0% bzw. gar nicht verändert (Schaubild 2).
Soweit es überhaupt legitim ist, die Entwicklung des Radverkehrs (behelfsweise) mit Zählstellendaten nachzuvollziehen, spricht vieles dafür, das letztgenannte Ergebnis zu Rate zu ziehen. Nicht nur weil das Ergebnis auf einer breiteren Basis an Zählstellen beruht, sondern sich auch auf die Monate mit milderem Wetter und daher weniger Diskrepanzen bezieht.
Es ließe sich spekulieren und diskutieren, inwieweit der an einigen Stellen (Kurpfalzbrücke, Friedrich-Ebert-Brücke) urplötzliche Anstieg der Frequenzen im Jahr 2022 mit den Einschränkungen des Autoverkehrs (Baustellen, Verkehrsversuch) zusammenhängt. Naheliegend erscheint, dass der Radverkehr infolge der höheren Spritpreise (Krieg in der Ukraine) zugenommen hat. Sicher ist jedenfalls, dass dieser leichte Anstieg auf exogene Push-Faktoren und nicht auf etwaige Anreize oder Angebote im Mannheimer Radverkehr zurückzuführen ist. Dies zeigen auch nachfolgende Beobachtungen:
Mannheimer Entwicklung unterscheidet sich negativ von der in anderen Städten
Bei aller Unsicherheit darüber, welche Zählstellen und welcher Zeitraum zur Bemessung herangezogen werden müsste, ist ein weiteres Ergebnis äußerst bemerkenswert:
- An fast allen Mannheimer Zählstellen ist die Zahl der Radfahrenden ab dem Covid-19 Jahr bis 2020/2021 tendenziell zurückgegangen.
- Dies ist ein im Vergleich zur bundesweiten Entwicklung umgekehrter Trend, denn im Zuge der Corona-Pandemie sind in Deutschland immer mehr Menschen auf das Fahrrad umgestiegen, obwohl gleichzeitig durch homeoffice der Berufspendlerverkehr insgesamt abgenommen hat (vgl. BMDV 2023; difu 2021; Reiffer et al. 2021).
- Eine Erklärung für diese unterschiedliche Entwicklung bietet eine mit Bicycle-Counter-Daten aus 20 europäischen Städten durchgeführte Studie (Kraus/Koch 2020). Sie zeigt auf, dass während der Corona-Pandemie all diejenigen Städte, die ihre Radverkehrsinfrastruktur rasch durch pop-up bike lanes erweitert haben, einen starken Anstieg an Fahrradfahrten registrierten.
- Genau dies war in Mannheim nicht der Fall. Gemeinderat und Verwaltung hatten die Einrichtung von pop-up-Radwegen während der Corona-Pandemie abgelehnt.
Diese in den Corona-Jahren beobachtbare Entwicklung spiegelt gleichzeitig den Stellenwert des Mannheimer Radverkehrs im Ranking vergleichbarer deutscher Städte wider: Unter allen Städten gleicher Größe und Topographie nimmt Mannheim (zuletzt gemessen 2018) mit einem Radverkehrsanteil von 20% einen hinteren Rang ein, während bspw. Karlsruhe einen Anteil von 36% aufweist (Schaubild 3).
Schlechte Noten im ADFC Fahrradklima-Test verweisen auf ungenügendes Radwegenetz
Der niedrige Radverkehrsanteil in Mannheim geht mit der Feststellung einher, dass die mit dem Fahrrad zurückgelegten Wegstrecken überdurchschnittlich kurz sind. Längere Strecken, die über den eigenen Stadtteil hinausreichen, sind weit schwieriger zu bewältigen (vgl. Masterplan Mobilität, Runder Tisch v. 25.11.2021, Folie 5).
Diese Feststellung stimmt mit dem Ergebnis der im Rahmen des Masterplans Mobilität durchgeführten Online-Erhebung überein: Demnach wird von den Befragten „die Herstellung eines durchgängig befahrbaren Radroutennetzes mit deutlich breiteren und sichereren Radwegen als heute“ als die wichtigste Forderung an die Stadt Mannheim betrachtet.
Daher dürfte nicht verwundern, dass auch im ADFC-Fahrradklima-Test genau diejenigen Indikatoren als besonders schlecht bewertet wurden, die auf ein ungenügendes Radwegenetz hinweisen: Während Mannheim in der Gesamtbewertung die Note 4,0 erreicht, werden Faktoren wie „Sicherheitsgefühl“ und „Hindernisse auf Radwegen“ sowie „Fahren auf Radwegen und Radfahrstreifen“ noch schlechter bzw. mit der Note 4,5 bewertet. Noch miserabler bzw. mit der Note 4,7 oder 4,9 werden die „Oberfläche der Radwege“ und die „Breite der Radwege“ beurteilt.
Fazit und Ausblick
Alle verfügbaren Daten zum Mannheimer Radverkehr weisen auf erhebliche Mängel und keinesfalls auf irgendwelche Fortschritte hin. Auf Basis der Zählstellendaten lassen sich derzeit auch keine validen Indikatoren finden, die auf eine gestiegene Nutzung des Fahrrads hinweisen. Diesbezüglich müssen die Ergebnisse der SrV-Erhebungen abgewartet werden, die im Verlauf dieses Jahres generiert werden.
Wenn Mannheim mit der bundesweiten Entwicklung mithalten möchte, dann müsste der Radverkehrsanteil im Modal Split ganz erheblich gesteigert werden. Im Moment weist jedoch vieles darauf hin, dass eine etwaige Zunahme des Radverkehrs – wenn überhaupt – eher durch exogene Einflussfaktoren (z.B. der bundesweite Fahrradtrend und die Energiekrise) erreicht werden könnte. Eine durchschlagend neue Radverkehrsinfrastruktur ist in Mannheim trotz aller Ankündigungen nicht in Sicht. Selbst Radschnellwege mit wirklich relevanten Streckenlängen und ohne Hindernisse lassen noch lange auf sich warten – oder werden schon im Vorfeld der Planung durch Kompromisse mit dem Autoverkehr ihrer Funktion enthoben.
In den letzten Monaten ist sogar ein Rollback in der Radverkehrspolitik zu beobachten. Am Speckweg wurden die Pläne für neue Radwege eingestampft und in der Innenstadt wurde ein Verkehrsversuch beendet, der dem Radverkehr mehr Platz eingeräumt hätte. Es ist ein bundesweit einmaliger und gleichzeitig skandalöser Vorgang, dass damit auch die einzige echte Fahrradstraße in Mannheim aufgehoben und wieder für den Autoverkehr geöffnet wurde. Dieser Rückzug ist mehr als nur symbolisch.
René Leicht
Erläuterungen zu den Daten
- Seit 2018 liegen in Mannheim keine Daten zur Verkehrsmittelwahl (Modal Split) vor. In den bis 2018 vorliegenden SrV-Erhebungen wurden die Mobilitätsentscheidungen in Bezug auf ALLE Verkehrsmittel berücksichtigt, wodurch der Anteil des Radverkehrs ermittelt werden kann.
- Werden die Daten der Radverkehrs-Zählstellen verwendet, lässt sich das Mobilitätsverhalten nur sehr eingeschränkt beurteilen, weil den Radverkehrsfrequenzen keine Referenzgrößen gegenübergestellt werden.
Bspw. dürfte die insgesamt (nach Corona) gestiegene Mobilität sowohl die Zahl der Radfahrten als auch die der Autofahrten erhöhen. D.h. die Wirksamkeit der Radverkehrspolitik oder das „Fahrradklima“ einer Stadt lässt sich aus reinen Frequenzdaten nicht beurteilen.